Dr. Rudolf Kuppenheim
Rudolf Kuppenheim wird am 7. November 1865 als zweitältester Sohn der Bertha Levinger und des bekannten Gold- und Silberwarenfabrikanten Louis Kuppenheim in Pforzheim geboren. Drei seiner vier Brüder steigen in das väterliche Geschäft ein, der vierte gründet eine Lederwarenfabrik in Offenbach. Rudolf aber besucht in seiner Heimatstadt das Großherzogliche Pädagogium und Realgymnasium und studiert in Freiburg und Heidelberg Medizin. Er spezialisiert sich auf Gynäkologie und schliesst 1889 mit der Dissertation „Über Indikationen und Wert der künstlichen Frühgeburt“ ab.
1892 heiratet er Sybille genannt Lilly Ehrmann aus Heidelberg und lässt sich am Marktplatz 10 in Pforzheim als erster dort tätiger Frauenarzt nieder. 1893 wird er Chefarzt der neugegründeten gynäkologischen Abteilung des Diakonissen-Krankenhauses Siloah. Im gleichen Jahr tritt das ursprünglich jüdische Ehepaar zum evangelischen Glauben über.
In den folgenden vier Jahrzehnten segensreicher Tätigkeit sowohl im Siloah als auch in seiner Praxis soll er gemäss Überlieferung rund 19000 Kinder entbunden haben. Er ist folglich stadtbekannt und hochangesehen. Auch kommunalpolitisch engagiert er sich, sitzt er doch vor dem Ersten Weltkrieg für die Deutschnationale Volkspartei (DNVP) in der Stadtverordnetenversammlung und gehört mehrere Jahre dem „Bürgerausschuss“ an. Ebenso ist er im Kirchgemeinderat der Evangelischen Kirche.
Ferner ist er 1904 Mitbegründer und Vorsitzender des „Vereins für Feuerbestattung“ und von 1925 bis 1937 Mitglied der Deutschen Gynäkologen Gesellschaft DGG.
In seiner spärlichen Freizeit spielt er Cello, und tritt 1896 dem Deutschen Alpenverein bei, dem er über 25 Jahre angehört.
Im Ersten Weltkrieg meldet sich der 49-jährige wie auch seine Söhne freiwillig zum Dienst, und steht als Generaloberst der Landwehr an der West- und insbesondere Ostfront großen Kriegs- und Seuchenlazaretten als Chefarzt vor. Hochdekoriert kehrt er zurück: 1915 wird ihm das Ritterkreuz des Ordens vom Zähringer Löwen verliehen, 1916 die silberne Verdienstmedaille am Bande der militärischen Karl-Friedrich-Verdienstmedaille, sowie das Eiserne Kreuz Erster Klasse. Ein im Feld zugezogenes Ohrenleiden zieht die Versetzung in die Heimat nach sich, wo er als Oberarzt beim Versorgungsamt Pforzheim wirkt. 1917 ernennt ihn der badischen Grossherzog Friedrich II. für seine Verdienste zum Medizinalrat. Im Sommer 1919 scheidet er aus dem Heeresdienst aus und nimmt wieder seine früheren Tätigkeiten auf.
1928 verlegt das Ehepaar seine Wohn- und Praxisräume an die Luisenstrasse 6.
1933, nach Hitlers Ernennung zum Reichskanzler, sind Rudolf 68, seine Gattin 65 Jahre alt. Schlagartig verändert sich ihr Leben. Das „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentum“ von 7. April 1933 zwingt Rudolf, ab 30. Juni 1933 seine Stellung im Siloah aufzugeben. Fortan darf er nur seine Privatpraxis führen.
Sein Name wird aus der Liste der Offiziere, die im Ersten Weltkrieg gedient hatten, gestrichen, obwohl er der höchstdekorierte deutsche Arzt in diesem Konflikt gewesen war. Die Nürnberger Gesetze von 1935 konstruieren aus einem religiösen Bekenntnis eine Rasse, welche über die Abstammung definiert wird. Die so als jüdische Deutsche definierten Menschen sind keine „Reichsbürger“ mehr, sondern Staatsbürger zweiter Klasse. Er und seine Frau werden als sogenannte „Volljuden“ eingestuft, obwohl beide getauft sind.
Im August 1938 nimmt sich sein Bruder Hugo im Zusammenhang mit der „Arisierung“ der väterlichen Firma das Leben. Im Oktober 1938 wird Rudolf die Approbation entzogen, er dürfte als „Krankenbehandler“ nur noch jüdische Klienten behandeln – jedoch lebt das Ehepaar fortan sehr zurückgezogen. Ab 1. Januar 1939 müssen sie zusätzlich die Zwangsnamen Israel und Sara führen. Zwei Zimmer ihrer Wohnung werden an eine andere Familie vergeben, Radio und später sogar das Telefon werden eingezogen; ihre Wertsachen liefern sie am 24. März 1939 auf der Pfandleihe Baden-Baden ab. Im Oktober 1940 kommt Rudolfs Vermögen auf ein Sperrkonto.
Auf den 22. Oktober 1940 ordnet Gauleiter Robert Wagner die Deportation der badischen und pfälzischen Juden in die nicht besetzte Zone Frankreichs an. Die französische Regierung wird sie im berüchtigten Lager im südfranzösischen Gurs internieren. Am 21. Oktober 1940 noch gedenkt das Ehepaar ihres 50-jährigen Kennenlernens, am nächsten Tag klopft die Gestapo an die Türe und befiehlt ihnen, sich innerhalb von zwei Stunden bereit zu machen. Mitnehmen dürfen sie maximal 50 Kilogramm Gepäck, bestehend aus Bekleidung, Wolldecke, Verpflegung für mehrere Tage (…), und nicht mehr als 100 Reichsmark Bargeld.
Während jener zwei Stunden jedoch breiten Rudolf und Lilly die Kriegsorden und andere Auszeichnungen auf einem Samtkissen aus und schlucken tödliches Morphium, um so der Deportation zu entgehen. Als die Polizei zurückkommt, sind sie bereits bewusstlos. Sie werden ins Krankenhaus gebracht und versterben am Tag darauf, dem 23. Oktober 1940. Der Suizid dieses hoch angesehenen Ehepaars erregt in Pforzheim ungeheures Aufsehen, und der Andrang bei der Beerdigung ist so groß, dass die Polizei den Friedhof absperren muss.
Die Wohnung wird nach dem Tod sofort versiegelt, der Hausrat auf der Straße versteigert. Ihr Vermögen wird am 23. Oktober 1940, wie das der anderen deportierten Juden aus Baden, beschlagnahmt.
Als Erben hatten Rudolf und Lilly bereits am 1. Oktober 1938 testamentarisch ihre beiden – noch minderjährigen – Enkelinnen eingesetzt, diese galten als „Mischlinge“. Im Mai 1942 jedoch werden Haus und Grundstück vom Deutschen Reich beschlagnahmt, um dort bombengeschädigte „arische Volksgenossen“ unterzubringen. Im Februar 1945 fällt es dem Luftangriff zum Opfer.
In den Jahren vor seinem Tod hatte Rudolf erklärt, er werde sein Haus nie verlassen.
Rudolfs Sohn Felix in einem Brief an den Pforzheimer Oberbürgermeister Weigelt im Jahr 1970:
„Mein Vater, der ein ausgesprochenes Gerechtigkeitsgefühl besass und dessen allerletzte Worte, in tiefster Niedergeschlagenheit ausgesprochen, waren, dass er „Gerechtigkeit vor den Menschen“ nicht gefunden haben scheine […]. Hat er doch besonders darunter gelitten, dass seine Vaterstadt, die zu verlassen er sich stets weigerte, ihn „ausstiess“, wie er sich ausdrückte, die Vaterstadt, der immer sein Interesse und auch seine Mitarbeit […] galt“.
Seinen Nachkommen bleibt Rudolf „ein Vorbild an Güte, Selbstbeherrschung und Pflichtgefühl“.
Die beiden Söhne Hans und Felix überleben die Nazidiktatur. Hans wirkt ab 1932 in Berlin und wandert 1939 mit Hilfe seines Arbeitsgebers Siemens in die USA aus, Felix lebt ab 1928 in Münster (Westfalen) und flieht sechs Wochen nach Ableben der Eltern über die UdSSR nach Ekuador.
1981 wird zu Rudolfs Erinnerung eine Bronzetafel beim Siloah-Krankenhaus enthüllt, am Fuße der 1970 nach ihm benannten Kuppenheimstraße. 2012 wird für den ehemaligen Chefarzt vor dem ursprünglichen Siloah (heute „Heim am Hachel“) ein Stolperstein verlegt, sowie zwei weitere für das Ehepaar an der Luisenstraße 6.