Hilde Widmann
Hilde Julia Widmann (geb. Kuppenheim) wird am 21. Januar 1900 als jüngstes Kind des Unternehmers Albert Kuppenheim und Emilie (geb. Groß) in Pforzheim geboren. Sie hat zwei Geschwister – den 1890 geborenen Bruder Ludwig sowie die 1897 geborene Schwester Anneliese, die bereits 1922 stirbt.
Hildes Großvater väterlicherseits, Louis Kuppenheim, ist Gründer der Firma „Louis Kuppenheim Gold- und Silberwaren“, die innerhalb kurzer Zeit Weltruf erreicht. Nach Louis Kuppenheims Tod führt Albert Kuppenheim die Firma mit zwei seiner Brüder weiter. Ein weiterer leitet die Filiale in Paris.
Die Familie Kuppenheim hat jüdische Wurzeln; alle Kinder des Firmengründers konvertieren um 1900 zum evangelischen Glauben. Hilde wird getauft und in der Schlosskirche in Pforzheim konfirmiert. Sie wächst behütet in der Villa, die ihre Eltern haben bauen lassen, auf, und besucht die Höhere Mädchenschule Pforzheim, die Hildaschule. Wie damals für „höhere Töchter“ verbreitet, macht sie – im Unterschied zu ihrem Bruder Ludwig – keine Berufsausbildung.
Die Familie Kuppenheim ist konservativ und patriotisch – Hildes Vater Albert meldet sich – wie seine Brüder – 1914 (mit 51 Jahren) freiwillig zum Krieg und kommt hoch dekoriert zurück, ihre Mutter Emilie wird mit dem Badischen Kriegshilfekreuz ausgezeichnet. Mitglieder der Familie Kuppenheim sind in vielerlei Hinsicht aktiv in der Pforzheimer Stadtgesellschaft.
1920 heiratet Hilde den Ingenieur Bruno Widmann, der in der Firma seiner Familie, dem Karlsruher Baukonzern Dyckerhoff und Widmann, arbeitet.
1925 scheidet ihr Vater Albert aus dem Leben. 1929 zieht ihr Bruder Ludwig nach Paris; er wird sich fortan Louis nennen. 1930 folgt ihm ihre Mutter Emilie dorthin.
1933 wird die NS-Diktatur errichtet; schon bald beginnt die Entrechtung und Verfolgung Deutscher mit jüdischen Wurzeln. Hilde Widmann selber trifft es in den ersten Jahren nicht, wohl aber ihre Familie – ihr Onkel Rudolf und zwei Cousinen werden aufgrund des „Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ entlassen, derselbe Onkel darf nicht mehr praktizieren, ihr Onkel Hugo, der die großväterliche Firma weiterführt, wird systematisch bei der Zuteilung von Rohstoffen benachteiligt, ihr – wie sie getaufter – Cousin Hans bei seinem Arbeitgeber als Jude denunziert. Als ihr Bruder 1934 in Begleitung der Mutter geschäftlich nach Pforzheim reist, werden beide von der Gestapo aufgesucht und gezwungen, das Land innerhalb einer Stunde zu verlassen.
Als die Zentrale der Firma Dyckerhoff und Widmann 1935 nach Berlin verlegt wird, ziehen die Eheleute Widmann dorthin. Zu diesem Zeitpunkt leben Hildes Cousin Hans Kuppenheim mit seiner Frau Ilse sowie ihre Cousine Lotte Brückner (geb. Kuppenheim) bereits in der Stadt. Am 15. September 1935 werden die Nürnberger Gesetze verkündet – über Nacht mutiert Hilde Widmann zu einer „Volljüdin“ (alle vier Großeltern sind jüdischen Glaubens). Da ihr Gatte „Arier“ ist, die Ehe aber kinderlos ist, wird sie als „nicht-privilegierte Mischehe“ eingestuft. Im Jahr 1938 – dem Jahr, indem ihr Onkel Hugo sich während der „Arisierung“ aus Verzweiflung umbringt und in dem im November die Synagogen brennen werden, verlässt Hilde Deutschland; sie zieht zu ihrem Bruder nach Paris, ins vermeintlich sichere Frankreich. Die drei – Mutter Emilie, Ludwig/Louis und Hilde – wohnen in einer kleinen Wohnung in der Rue de Vaugirard 288. Zu dem Trio stößt 1938 kurz noch – auf ihrem Weg in die USA – Cousine Lotte Brückner (geb. Kuppenheim), vorher Berlin und Hamburg. Ludwig/Louis, mittlerweile staatenlos, hatte schriftlich seine Bereitschaft erklärt, in die französische Armee einzutreten, sollte es zum Krieg gegen Deutschland kommen. Daher hat er „einen entsprechenden Paß.“ Seine Mutter Emilie gilt als „Refugiée apatride“ (staatenloser Flüchtling) und verfügt über eine Carte d’identité, Hilde jedoch hat lediglich den überaus prekären Status einer „Refugiée d’origine allemande“: sie ist also als geflüchtete Deutsche, als Ausländerin, registriert.
Bei Kriegsausbruch im September 1939 tritt Ludwig/Louis in die Fremdenlegion ein (eine andere Option gibt es für Ausländer nicht). Er bekommt eine neue Identität und wird in Nordafrika eingesetzt. Die Wohnung in Paris wird aufgegeben; seine Mutter und Hilde bringt er kurz vorher in einem gemieteten Häuschen in Antibes an der Côte d’Azur unter.
1940 kapituliert Frankreich. Ein Teil des Landes wird von deutschen Truppen besetzt; in der sog. „freien Zone“ wird der État français mit der Hauptstadt Vichy gegründet, der von einer rechtsgerichteten, antisemitischen Regierung unter Marschall Philippe Pétain diktatorisch regiert wird. Im Oktober 1940 wird das erste „Statut des juifs“ erlassen, welches jüdisch als Rasse definiert, nicht als Religion. Ab dem 10. Oktober 1940 müssen ausländische Jüdinnen und Juden in Lagern interniert werden; Hilde Widmann befindet sich also spätestens ab dann in unmittelbarer Gefahr.
So wird sie 1940 denn auch als „ausländische Staatsangehörige einer feindlichen Nation“ verhaftet und in das berüchtigte Lager in Gurs (Pyrenäenvorland) verschleppt. Ihrer Mutter gelingt es jedoch, sie mit den Militärpapieren von Ludwig/Louis herauszuholen.
Im Sommer 1942 verpflichtet sich die Vichy-Regierung, 10.000 “ausländische Juden“ an das Deutsche Reich auszuliefern. (Dies geschieht VOR der Besetzung fast ganz Frankreichs im November 1942.) Es gibt großangelegte Razzien, organisiert von der französischen Polizei; letztere übernimmt die Verhaftung und Bewachung dieser Menschen und zwingt sie in Züge, welche sie in die besetzte Zone Frankreichs, in das Lager Drancy bei Paris, bringen werden. Die günstig in der Nähe des Bahnhofs Nice-St. Roch gelegene Polizeikaserne Auvare wird zum Sammellager.
Beide Frauen werden gewarnt. Emilie Kuppenheim gelingt es, sich bei Schafzüchtern in einer Hütte bei Plascassier (heute Ortsteil von Grasse) zu verstecken. Für Hilde ist es jedoch zu spät. Sie wird während der Razzien verhaftet und mit weiteren knapp 1000 Männern, Frauen und Kindern am 26. und 27. August 1942 in die o.g. Polizeikaserne, die Caserne Auvare in Nizza, verschleppt. Ein Augenzeuge schildert die dortige Situation, wie sie auch Hilde Widmann erlebt haben muss: „[…] was würde aus ihnen werden? […] Es herrscht Resignation, vermischt mit nackter Angst. Die Menschen […] sind sich klar darüber, dass sie an die deutschen Behörden ausgeliefert werden. Sie unterliegen einer scharfen Bewachung, um jegliche Verzweiflungstat zu verhindern. […] Ein festgenommener Gefangener wurde dabei erwischt, wie er versuchte, sich mit einer Rasierklinge die Pulsadern zu öffnen […]“.
Am 31. August 1942 werden 560 von ihnen in einem Sonderzug nach Drancy verschleppt: 274 Männer, 281 Frauen und 5 Kinder unter 10 Jahren. 153 Männer bewachen sie.
Am 2. September 1942 geht der Transport Nr. 27 von Drancy nach Auschwitz ab. Hier verliert sich die Spur von Hilde Widmann.
Auf welchem Wege die Familie von Hildes Deportation erfahren hat, ist nicht bekannt. Die Information wird jedoch – wegen der Zensur verklausuliert – innerhalb der Familie weitergegeben, so in einem Brief, den Hildes Onkel Ernst Kuppenheim am 24. Januar 1943 an seinen Sohn Erich in Buenos Aires schreibt: „Es wird Dich sicher interessieren […] dass Hilde W. nicht mehr bei Tante Emilie ist, man hat sie wegen ihrer Erbkrankheit in ein Sanatorium geschickt.“
Am 29. Januar 1943 wird die Ehe zwischen Hilde und Bruno Widmann vom Landgericht Berlin geschieden. 1945 wird Ludwig/Louis demobilisiert und findet seine Mutter in Antibes wieder, nicht aber Hilde. „[…] Mutter glaubte, dass meine Schwester Hilde die Deportation überlebt haben würde. […] Sie hörte und las über die Greuel der Nazi-Konzentrationslager und kam nach und nach zur Überzeugung, dass auch ihr Kind Hilde nicht zurückkehren werde.“
Die Familie erfährt die Wahrheit; mit einem Acte de disparition wird Hilde Widmann für tot erklärt. In einer Entscheidung des Amtsgerichts Charlottenburg vom 19. Mai 1953 wird ihr Todesdatum auf den 31. Dezember 1942 festgelegt.
Am 19. März 1955 nimmt das Landgericht Berlin (40. Zivilkammer) die Rechtskräftigkeit des Scheidungsurteils zurück, wahrscheinlich auf Antrag von Bruno Widmann.
Sehr lange erinnert nur ein Stein auf dem Familiengrab in Pforzheim an Hilde Widmann geb. Kuppenheim. Am 30. Januar 2020 wird in Nizza der „Mur des Déportés“ enthüllt. Auf ihm stehen die Namen der 3603 von Nizza aus verschleppten Jüdinnen und Juden, darunter auch der von Hilde Widmann. Initiiert hat dieses Mahnmal Serge Klarsfeld, der 1942 in Südfrankreich lebte und genau diesen Razzien entkam.
Seit Juni 2022 liegt ein Stolperstein vor Hilde Widmanns letzter Adresse in Berlin, der Binger Straße 41.
Autorin: Sabine Herrle (Freiburg)