Traute Kuppenheim
Gertraut Anna Helen „Traute“ Kuppenheim wird am 2. Mai 1924 als Tochter von Gertraut (geb. Klöppel) und Felix Kuppenheim in Pforzheim geboren. Einen Tag später stirbt ihre Mutter. Die Großeltern väterlicherseits ziehen die Kleine auf. Diese sind Dr. Rudolph Kuppenheim, ein weithin geachteter Frauenarzt und Chef der Gynäkologie am Pforzheimer Siloah-Krankenhaus, und seine Gattin Lilly (geb. Ehrmann). Felix Kuppenheim, ihr jüngerer Sohn, ist Maschinenbauingenieur und arbeitet im Familienunternehmen, der „Louis Kuppenheim AG, Gold- und Silberwaren“, einer Firma von Weltrang, gegründet von Trautes Urgroßvater Louis Kuppenheim, geleitet von ihrem Großonkel Hugo Kuppenheim.
Die Familie Kuppenheim hat jüdische Wurzeln. Die Kinder des Firmengründers, also Rudolf und seine fünf Geschwister, konvertieren um die Jahrhundertwende zum evangelischen Glauben, lassen ihre Kinder taufen und konfirmieren.
1928 – Traute ist vier Jahre alt – heiratet ihr Vater zum zweiten Mal – Gertrud Meyer, die als Prokuristin in einer Pforzheimer Uhrenfabrik arbeitet (damals für eine Frau absolut ungewöhnlich).
Die wirtschaftliche Lage zwingt die Louis Kuppenheim AG, Personal abzubauen, darunter fällt auch Felix.
Er und seine Frau beschließen, sich selbstständig zu machen. Sie ziehen nach Münster und bauen einen Großhandel mit Uhren auf. Felix Kuppenheim fährt mit dem Auto über Land, um Kunden anzuwerben; seine Frau führt die Bücher und leitet das Geschäft. Im Jahr 1930 wird Trautes Schwester Ursula geboren, dem Jahr, in dem Traute eingeschult wird. Lesen zu lernen ist für sie ein großes Glück. Einen Höhepunkt im Leben der kleinen Traute sind die alljährlichen Sommerferien in Pforzheim, bei den geliebten Großeltern; der Abschied fällt ihr jedes Mal schwer. Gleich zu Beginn der NS-Diktatur treffen die ersten Maßnahmen Mitglieder der Familie Kuppenheim – beispielsweise das „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ ihren Großvater und zwei Tanten. Trautes Vater sieht zwar die Zeichen, hofft aber, „dass ein so einschneidender Schritt, wie eine Auswanderung, nicht notwendig werde. Schließlich waren alle Kuppenheims Kriegsteilnehmer gewesen, und hoch dekoriert zurückgekehrt […] Welches Ausmass die Katastrophe wirklich annehmen würde, konnte sich niemand, […] auch in seinen dunkelsten Ängsten, vorstellen.“ Außerdem fehlen der Familie die finanziellen Mittel.
Im Sommer 1934 zieht Traute zu den Großeltern nach Pforzheim und besucht dort die höhere Mädchenschule, die Hildaschule.
Die „Nürnberger Gesetze“ 1935 bilden einen Einschnitt. Sie definieren jüdisch als „Rasse“, nicht als Religion. Jüdische Deutsche werden zu Bürgern zweiter Klasse. Alle Kinder des Firmengründers Louis Kuppenheim werden über Nacht zu „Volljuden“, so auch Dr. Rudolf Kuppenheim, Trautes geliebter Großvater. Großmutter Lilly (geb. Ehrmann) gilt ebenfalls als „Volljüdin“, ebenso wie Trautes Vater Felix und sein Bruder Hans. Traute selbst und ihre Schwester Ursula werden als „Mischlinge ersten Grades“ eingestuft. Die „arischen“ Teile der Familie gelten als „jüdisch versippt“. Im März 1938 wird Traute in Pforzheim konfirmiert. Pfarrer Karl Specht, Mitglied der „Bekenntnisgemeinschaft“ (Badischer Zweig der Bekennenden Kirche), gibt Traute als Konfirmationsspruch auf den Weg: „Frieden lasse ich euch, meinen Frieden gebe ich euch, nicht gebe ich euch, wie die Welt gibt. Euer Herz erschrecke nicht und fürchte sich nicht.“ (Johannes 14:27) Er kennt die Familie und ihr Schicksal. Kurz Zeit später, als Traute das achte Schuljahr abgeschlossen hat, holen die Eltern sie zurück nach Münster. Das „Gesetz gegen die Überfüllung deutscher Schulen und Hochschulen“ vom 25. April 1933 ermöglicht den Ausschluss „nichtarischer“ Kinder von öffentlichen Schulen (und Hochschulen).
Angesichts Trautes Situation als „Mischling ersten Grades“ halten ihre Eltern es für geboten, dass sie einen praktischen Beruf erlernt, und sie beginnt eine Lehre im elterlichen Großhandel.
Im selben Jahr muss die 14jährige erleben, wie ihr Großonkel Hugo sich während der „Arisierung“ verzweifelt das Leben nimmt. Eine Tante schafft es, in die USA auszuwandern, eine weitere flieht nach Frankreich. Traute erlebt die Reichspogromnacht – das Geschäft der Eltern wird jedoch nicht demoliert, möglicherweise, da es sich um ein Etagengeschäft handelt, also von der Wohnung aus betrieben wird, und von einer „Arierin“ geleitet wird. Ihr Vater wird gewarnt und muss sich verstecken.
Im Frühjahr 1939 gelingt es ihrem Onkel Hans, mit Hilfe seines Arbeitgebers, der Firma Siemens, das Land zu verlassen. Zur gleichen Zeit wird ein Cousin ihres Vaters, das jüngste Kind ihres Großonkels Hugo, wie Traute als „Mischling“ eingestuft, mit einem Kindertransport nach England geschickt. Auch ihr Vater, Felix Kuppenheim, sucht jetzt intensiv nach einer Möglichkeit, das Land zu verlassen. Am 22. Oktober 1940 bringen ihre geliebten Großeltern sich um, um der Deportation nach Gurs zu entgehen. Ihr Vater will an der Beerdigung seiner Eltern teilnehmen, er wird in Pforzheim erkannt und gewarnt und entgeht so wahrscheinlich der Verhaftung. Er hat gerade ein Visum nach Ecuador bekommen – auf abenteuerlichen Wegen, durch die Mandschurei, gelingt ihm die Ausreise. Im selben Jahr muss Traute ihre Lehre abbrechen, als „Mischling“ und „Mädchen blieb nur die Arbeit als Hausangestellte“. Doppelt diskriminiert – als „Nichtarierin“ und Frau – beginnt sie eine Hauswirtschaftslehre im Diakonissenhaus in Münster in der Hoffnung, im Anschluss eine Ausbildung zur Krankenschwester machen zu können. Eine weitere Einschränkung lässt auch dies nicht zu; für sie kommt lediglich die Kinder- und Säuglingspflege in Frage. Zum Abschlussexamen wird sie nicht zugelassen.
1942 zieht Traute nach Berlin in die Tannenstraße 7, zu ihrer Tante Ilse Kuppenheim geb. Hoepfel, „arische“ Ehefrau (und Cousine ihrer leiblichen Mutter) ihres Onkels Hans Kuppenheim der seit 1939 in den USA lebt. „Ilses liebevolle Art, ihre Wärme, Verständnis und Einfühlungsvermögen machten mir Mut, hoben und stärkten mein Selbstvertrauen, sodass ich fähig wurde mich allen Schwierigkeiten zum Trotz zu behaupten […]“ TrautesArbeit ist anstrengend, häufig muss sie die Stelle wechseln, da nur kinderreiche Familien oder solche mit Neugeborenen bis 6 Wochen eine Kinderpflegerin beantragen dürfen. Bei jeder Bewerbung muss sie sich erklären – dass sie kein Examen habe, da sie als „Halbjüdin“ zu diesem nicht zugelassen sei. „Natürlich musste ich bei jeder Bewerbung neu mein Sprüchlein hersagen: warum ich kein Staatsexamen habe; das war nicht angenehm, aber im Vergleich zu dem, was andere, z.B. in Rüstungsfabriken oder Arbeitslagerndurchstehen mussten, kaum erwähnenswert.“
1943 hat sie über einen längeren Zeitraum eine Stelle bei dem Besitzer einer Druckerei im Norden Berlins, der auch als „Schieber“ tätig ist; für Traute bedeutet dies, dass sie ab und zu Lebensmittel erhält. Ein Erlebnis auf dem Weg zur Arbeitsstelle erschüttert sie nachhaltig. Sie wartet auf den Zug nach Berlin und sieht auf einem „anderen Gleis einen Güterzug Richtung Oranienburg so langsam fahren, dass man hinter vergitterten Luken, verzerrte, ausgemergelte Gesichter erkennen konnte.“ Es handelt sich um Menschen, die in das Lager Sachsenhausen deportiert werden.
1942 und 1943 gibt es wieder schreckliche Nachrichten aus der Familie: Trautes „sehr geliebte Grosstante“, die Künstlerin Karoline Borchardt geb. Ehrmann, schreibt ihr einen kurzen Gruß, bevor sie nach Theresienstadt deportiert wird (sie wird die unmenschlichen Bedingungen dort nicht überleben). Ihre Tante Hilde Widmann geb. Kuppenheim, deren Mann Bruno Widmann in Berlin lebt und Kontakt mit Ilse hat, ist in Frankreich verhaftet und „in den Osten“ deportiert worden. Ihr Großonkel Ernst Kuppenheim hat Verhaftung und das „Arbeitserziehungslager“ in Heddernheim nicht überlebt. Auch aus Münster erfährt sie Beklemmendes: ihre Schwester Ursula wird von einem rassistischen Lehrer vorgeführt und gequält, von einigen Mitschülerinnen schikaniert. Sie wird gewarnt – die Gestapo suche sie – Ursula muss sich verstecken. (Zu dieser Zeit, im Herbst 1944, finden die sog. „Mischlingsaktionen“ statt). Trautes Stiefmutter wird bei einem Luftangriff verletzt und überlebt knapp.
Ihre Großtante Greta Stengel (geb. Kuppenheim) wird im Januar 1944 nach Theresienstadt deportiert – die Schwester ihres Großvaters Dr. Rudolf Kuppenheim und die einzige noch lebende Vertreterin dieser Generation der Kuppenheims (sie wird, schwer gezeichnet, überleben).
Am 23. Dezember 1944 hat Traute großes Glück: eine ihrer Freundinnen, auch sie „Mischling“, muss sich wie andere auch bei der Gestapo melden – die Betroffenen werden für die Rüstungsindustrie dienstverpflichtet, aber Traute steht offenbar nicht auf der Liste. Die Luftangriffe mehren sich, die Rote Armee marschiert auf Berlin vor. Traute hat „widerstreitende Gefühle“: in die Angst vor der Besetzung Berlins mischt sich „die Hoffnung, das böse, gefürchtete Nazi-Regime bald ganz besiegt zu sehen. […] hoffte man, dass Hitler, durch die immer aussichtsloser werdende Lage, keine Zeit mehr bleiben würde, sich mit seinen nächsten Opfern zu beschäftigen: Halbjuden, den mit Juden verheirateten nichtjüdischen Ehepartnern und deren evtl. noch lebenden Männern und Frauen […].“ Sowohl Traute als auch Ilse Kuppenheim fallen unter diese Kategorien; sie leben in ständiger Ungewissheit und Angst.
Die fast vollständige Zerstörung ihrer Heimatstadt Pforzheim am 23. Februar 1945 erschüttert Traute.
Nach Kriegsende ist Traute 21 Jahre alt und nimmt ihre Ausbildung wieder auf, zunächst als Krankenschwesterschülerin im Dominikus-Krankenhaus in Hermsdorf. Als Nazi-Verfolgte wird sie in einem bereits laufenden Kurs untergebracht. Am Krankenhaus St. Hedwig in Mitte soll sie ihre Ausbildung beenden. Allerdings wird 1946 bei ihr Tuberkulose festgestellt, und die verordnete Liegekur unterbricht die Ausbildung ein weiteres Mal für längere Zeit. Aus Münster erfährt sie, dass auch Schwester Ursula wieder eine Schule besucht.
Im Frühjahr 1947 verlässt ihre Tante Ilse Deutschland Richtung USA. Traute gelingt es, nach Münster zu Stiefmutter und Schwester zu reisen (in Zeiten der Besatzungszonen kein leichtes Unterfangen). In Minden kann sie Anfang 1948 endlich ihre Ausbildung abschließen. Von Ecuador aus versucht ihr Vater Felix erfolgreich, mit Hilfe der IRO (International Refugee Organisation, Sonderorganisation der UNO), seine Familie nachzuholen. Traute und ihre Schwester werden von vielen beneidet, dass sie dem zerstörten Land den Rücken kehren dürfen. Traute nennt einen weiteren Grund, nicht in Deutschland zu bleiben: „Am allerwenigsten hätte unser Vater es verstanden. Er hatte sich in den langen, ungewissen […] sehr einsamen Jahren Ablehnung, ja Verachtung und beinahe Hass gegen das Land seines Ursprungs hineingelebt. […] Er hat wohl nie den Tod seiner Eltern verwinden können, die Art, wie sie aus dem Leben hatten gehen müssen. Es wäre ein neuer, bitterer Schlag für ihn gewesen, wenn eine seiner Töchter darauf bestanden hätte zu bleiben […].“
Im Sommer 1948 geht es aus Italien mit der „Marco Polo“ nach Südamerika. Am 28. Oktober 1948 ist Familie Kuppenheim in Guayaquil vereint, nach acht Jahren Trennung.
Ihre Großeltern haben Traute und Ursula als Erbinnen eingesetzt – es dauert bis zum April 1961, bis sie zu ihrem Recht kommen.
Traute Kuppenheim heiratet 1950 Roberto Pablo Hahn, dessen Vater Deutschland bereits 1933 verlassen hat. Mit ihren Kindern Carlos und Silvia spricht sie nie über ihre Erlebnisse – wie ihre Tochter es ausdrückt: „Die Sprache meiner Mutter waren Sprachlosigkeit und Tränen“. Ihre Erinnerungen schreibt sie für ihre Enkel auf.
Traute Kuppenheim de Hahn stirbt am 10. September 1999 in Ecuador.
Autorin: Sabine Herrle (Freiburg)